Seehunde in der Nordsee

von Dörthe Schrader | WuM | Hannover | 25. Januar 2000

Ein Einblick in das Leben des häufigsten einheimischen Meeressäugers

Dörthe Schrader

Vortrag am 25.1.2000 an der Tierärztlichen Hochschule Hannover im Hörsaal des Museumsgebäudes („Alte Apotheke“).

Seehund, © Nationalparkamt, Martin Stock

Zusammenfassung

Der europäische Seehund (Phoca vitulina vitulina, Linnaeus 1758) ist der häufigste einheimische Meeressäuger. Der Bestand gilt als nicht gefährdet, dennoch unterliegt der Seehund in seinem Lebensraum umfangreichen Schutz- und Hegemaßnahmen. Zu diesen zählt neben der Einrichtung des Nationalparkes Wattenmeer auch der Betrieb von Seehundaufzuchtstationen.

Der Seehundbestand wird regelmäßig durch Zählungen vom Flugzeug aus erfasst. Während der letzten Jahre wuchs der Bestand im europäischen Wattengebiet von 13.266 Tieren im Jahr 1997 auf 14.440 Seehunde im Jahr 1998 an, obwohl die Zuwachsrate mit 6.2 % deutlich niedriger war als in den Jahren davor. Von dieser Population lebten 1998 im niedersächsischen Wattenmeer 4588 Tiere und an den Küsten Schleswig-Holsteins 5568 Seehunde. Damit hat sich der Bestand seit dem großen Seehundsterben von 1988 nicht nur wieder vollständig erholt, sondern die Population ist mittlerweile auf einen nie dagewesenen Stand angestiegen.

Jahrhundertelang wurde der Seehund aus reiner Notwendigkeit gejagt. Er diente als Nahrungsquelle und lieferte darüberhinaus viele andere zum Leben notwendige Produkte wie Öl, Fell und Knochen. Mit der Verbesserung der Fischerei war der Seehund als Nahrungslieferant nicht mehr so wichtig, wurde jetzt jedoch als unerwünschter Nahrungskonkurrent verfolgt. Das wissenschaftliche Interesse am Seehund beschränkte sich daher auch überwiegend auf sein Nahrungsspektrum und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Schaden. Erst mit der Einführung einer Jagdregelung im Jahre 1934 verstärkte sich das Augenmerk der Wissenschaftler auf den Seehund. Seitdem nahm das wissenschafltliche Interesse an dieser Tierart stetig zu, um mit dem Seehundsterben 1988 wohl einen Höhepunkt erreicht zu haben.

Der europäische Seehund Phoca vitulina vitulina ist ein Flossenfüßer der Ordnung Raubtiere.

Die Pinnipedia haben sich bereits im Miozän vor ca. 35 – 20 Millionen Jahren aus quadrupeden Landraubtieren entwickelt. Während früher die Meinung vorherrschte, daß alle Robben von bärenartigen Vorfahren abstammen, scheinen neuere Untersuchungen eine biphyletische Abstammung zu bestätigen. Demnach hatten nur die Ohrenrobbenartigen ursine Vorfahren, wohingegen sich die Hundsrobben aus lutrinen bzw. musteliden Ahnen entwickelt haben. Damit lassen sich auch äußerlich deutlich erkennbare Unterschiede zwischen den Familien erldären. So besitzen allein die Ohrenrobben äußerlich erkennbare Rudimente einer Ohrmuschel, während die Hundsrobben keinerlei äußere Ohren aufweisen. Ferner ist das Leben der Ohrenrobben stärker an das Land gebunden als das der echten Robben. Otarioidea können bei der Fortbewegung an Land ihre Hinterflossen nach vorne klappen und sind so mit ihrem derart tetrapoden Gang in der Lage, ihren Körper vom Untergrund zu erheben und sogar in eine Art Kanter zu verfallen. Phocoidea dagegen können ihr Fußwurzelgelenk nur sehr eingeschränkt bewegen und können über Land daher lediglich mit spannerartigen Bewegungen robben. Im Wasser hingegen kommt der Vorwärtsschub bei Hundsrobben vorwiegend aus der Bewegung des Hinterleibes, während Ohrenrobben ihren Antrieb hauptsächlich von den bei ihnen wesentlich größeren Vorderflossen beziehen.

Die Familie der Phocidae umfasst 19 Arten, von denen der überwiegende Teil auf der nördlichen Erdhalbkugel beheimatet ist. Dabei hat der gemeine Seehund unter den nördlichen Hundsrobben das südlichste Verbreitungsgebiet. Innerhalb dieses Verbreitungsgebietes werden vier Unterarten unterschieden (Phoca v. vitulina, Phoca v. concolor, Phoca v. richardsi, Phoca v. stejnegeri), deren Erscheinungsbild jedoch keine geographischen Variationen zeigt.

Der Seehund hat eine gedrungene, torpedo- oder spindeIförmige Gestalt mit verkürzten und versenkten Gliedmaßen. Das Haarkleid ist in der Regel grau bis graubraun mit vielen unregelmäßigen kleinen Flecken (im englischen Sprachraum wird der Seehund auch „spotted seal“ genannt), wobei der Rücken in der Regel deutlich dunkler ist und mehr Flecken aufweist als die Bauchseite. Es kommen jedoch alle Farbvariationen von einem hellen, fast weißen sandgelb bis hin zu fast schwarzen Tieren vor.

Die erwachsenen Seehundbullen werden ca. 1,50 m bis 1,75 m lang und weisen ein Gewicht von ca. 75 – 110 kg auf. Die Kühe sind bei einer Länge von ca. 1,30 m bis 1,70 m und einem Gewicht von ca. 65 – 100 kg um etwa 10 – 15 % kleiner und leichter.

Topografie der Baucheingeweide beim Seehund, Ventralansicht. © C.-I. von Stemm

Seehunde sind zirkumpolar an allen eisfreien atlantischen und pazifischen Küsten beheimatet. Die hier vorkommende Unterart Phoca vitulina vitulinaist die ostatlantische Nominatform und nur in Europa verbreitet.

Gegenwärtig erstreckt sich dieses Verbreitungsgebiet von den Küsten Islands und Irlands, den Hebriden, den Orkney-Inseln, den westlichen und östlichen Küsten Schottlands und dem Wash-Gebiet (East Anglia) bis zum europäischen Festland an den Nordseeküsten Norwegens (von Oslo bis zur Finnmark), Dänemarks, Deutschlands und den Niederlanden Außerdem ist eine kleine Anzahl jedes Jahr in Frankreich an der Kanalküste zu beobachten. Weiterhin ist der Seehund im Kattegat, an den Ostküsten Danemarks, der Westküste Schwedens und weiter in der südlichen Ostsee bis nach Stockholm zu finden. Der Lebensraum umfaßt Buchten, Felsgruppen und vor allem Meeresgegenden, in denen im Rhythmus der Gezeiten Sandbänke im trockenfallenden Watt auftreten.

Die geographische Verbreitung der einzelnen Arten ist eng mit der jeweiligen Biologie, insbesondere mit dem Ort der Fortpflanzung verbunden. Der gemeine Seehund ist ein Küstenbewohner. An den europäischen Küsten bezieht er dabei zwei unterschiedliche Habitate. Zum einen ist er an Felsküsten zu finden, wo Felsen im Tidengebiet, die vom offenen Meer geschützt liegen, bevorzugt werden, wo er aber auch Riffe und Kiesstrände belegt. Zum anderen benutzt er als Ruheplätze häufig sandige Küsten, z. B. Sandbänke in Flußmündungen, die nicht bei Flut überspült werden, flache Strände und Platen im Tidenbereich des Wattenmeeres oder die Ufer eines tiefen Prieles. Hauptkriterien für die Wahl eines Ruheplatzes sind Ungestörtheit von Menschen sowie Zugang zu naheliegendem tieferen Wasser.

Die Geburten bei Phoca vitulina vitulina finden im gesamten Verbreitungsgebiet innerhalb eines Monats statt, wobei die Zeiten an den verschiedenen Fortpflanzungsplätzen jedoch von Mai bis Juli varieren. An den niedersächsischen Küsten finden 80 % aller Geburten zwischen dem 15. Juni und dem 15. Juli statt. Die Welpen werden in der Regel bei Niedrigwasser auf Sandbänken geboren, die von der nächsten Flut schon wieder überspült werden. Daher wird das weiße Embryonalhaar (Lanugo) am Ende der Trächtigkeit bereits intrauterin durch das wasserdichte Jugendkleid ersetzt, durch den Geburtsvorgang abgestreift und mit der Nachgeburt ausgestoßen. In der Regel wird nur ein Junges geboren, welches bei der Geburt ca. 85 cm lang ist und ein Gewicht von ungefähr 10 kg hat. Durch die sehr fettreiche Milch verdoppeln bis verdreifachen die Welpen in der sehr kurzen Säugezeit von nur etwa vier Wochen ihr Geburtsgewicht. Die Geschlechtsreife tritt bei den Kühen mit 5 – 6 Jahren und bei den Bullen nicht vor dem 6. Lebensjahr ein.

Nach der Säugezeit beginnt bei den älteren Tieren der Haarwechsel, an den sich im Spätsommer die Paarungszeit anschließt. Die Paarung findet normalerweise im Wasser statt. Eine Haremsbildung oder die Belegung von Territorien, wie sie von anderen Robbenarten bekannt ist, gibt es bei Seehunden nicht. Zwar sieht man sie meistens in Rudeln auf ihren Ruheplätzen liegen, wo sie in der Paarungszeit auch größere Ansammlungen bilden können, doch bleiben sie stets auf Abstand und vermeiden Körperkontakte untereinander. Viele Ruheplätze werden regelmäßig von Seehunden aufgesucht. Es liegen allerdings keine Untersuchungen über die Standorttreue des Einzeltieres vor.

Die Populationsgröße unterliegt starken jahreszeitlichen Schwankungen. Während das Maximum zur Wurf- und Paarungszeit von Mitte Juni bis Ende Juli erreicht wird, sinkt die Anzahl der Seehunde im Wattenmeer zwischen Dezember und Februar auf 10 – 15 % dieser Zahlen herab, da die Tiere dann die offene See bevorzugen. Lediglich bei ungünstigen Witterungsverhältnissen wird kurzfristig eine höhere Anzahl von Tieren an den Küsten beobachtet. Der Anteil der Jungtiere beträgt dabei ca. 25 %, von denen etwa 60 % das erste Lebensjahr nicht überleben. Die Lebenserwartung der überlebenden Tiere dagegen beträgt in freier Wildbahn durchaus 25 – 30 Jahre.

Das Beutespektrum des Nahrungsopportunisten Seehund ist sehr weit und variiert in den verschiedenen Verbreitungsgebieten in Abhängigkeit von der verfügbaren Beute: Seehunde fressen das, was am leichtesten und häufigsten zu erbeuten ist. Bei den entwöhnten Jungseehunden ist es meistens Granat („Krabben“), bei den erfahreneren Tieren reicht das Nahrungsspektrum von Tintenfischen und Crustaceen über Plattfische bis hin zu einer Vielzahl anderer Fische. Der Anteil der ebenfalls von den Menschen genutzten Fischarten ist dabei jedoch relativ gering und mit Ausnahme einzelner Fälle (z.B. Lachsfischerei mit Netzen) gibt es keine Hinweise darauf, daß Robben die Häufigkeit der kommerziell gefangenen Fischarten erkennbar reduzieren.

Der Seehund weist wie die anderen Robben eine Vielzahl morphologischer Anpassungen an das Wasserleben auf. Dazu gehören u.a. torpedoähnliche Gestalt, die Versenkung der größten Teile der Extremitäten in das Körperinnere und die Umwandlung der Autopodien in Flossen. Ferner haben eine Reihe physiologischer Anpassungen stattfinden müssen, die vor allem die Möglichkeit zu langem und tiefem Tauchen, die Thermoregulation und die Reproduktion in Form der verzögerten Nidation betreffen.

 

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Seehunde & Meeressäuger. 17

im Internet…

Thomas Mauersberg:
www.seehund.de

Caren-Imme von Stemm: Anatomische Zeichnungen.